Was bedeutet praxisreif?
Ein zentrales Thema in der aktuellen Tierschutzdiskussion ist das Töten männlicher Eintagsküken. Die DGS sprach darüber mit ZDG-Präsident Friedrich-Otto Ripke.
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DGS: Es gab nicht zuletzt rund um die Grüne Woche viele Meldungen zum Entwicklungsstand der Geschlechtsbestimmung im Hühnerei in Deutschland. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Friedrich-Otto Ripke: Die Lösung dieses Problems hat für mich sehr hohe Priorität. Ich begrüße es sehr, dass vor allem in Deutschland intensiv und staatlich gefördert an Lösungen gearbeitet wird – aber auch international sind Entwicklungen zu beobachten.
Was schätzen Sie, wie lange es noch dauert, bis eine praxisreife Lösung verfügbar ist?
Für mich ist es vor allem wichtig, dass ein Verfahren tatsächlich schnell praxisreif wird. Wie schnell dieses Ziel zu erreichen ist, kann – denke ich – zum jetzigen Zeitpunkt niemand seriös vorhersagen. Grundsätzlich muss die ausreichende Sicherheit und Verlässlichkeit der technischen Ansätze Vorrang vor einer möglichst schnellen Einführung eines Verfahrens haben. Ein wichtiges Kriterium ist in diesem Zusammenhang ferner, dass eine technische Bestimmung des Geschlechts im Ei zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Brut erfolgt. Hieran müssen alle – auch die in Politik und Verwaltung Verantwortlichen – interessiert sein.
Was verstehen Sie unter praxisreif?
Einfach gesprochen könnte man sagen: Eine technische Lösung muss im normalen Brütereibetrieb ohne Probleme sicher funktionieren.
Eine Grundvoraussetzung für die Praxisreife eines Verfahrens ist jedoch die Bestimmung des Geschlechts mit möglichst hoher – im Idealfall über 95%iger – Genauigkeit. Außerdem muss die Bestimmung des Geschlechts in einer Geschwindigkeit erfolgen, die an die Abläufe in einer modernen Brüterei angepasst ist. Das bedeutet, dass beispielsweise eine Kapazität von 100 000 Eiern pro Tag möglich sein muss.
Eine Lösung ist ferner nur als praxisreif zu bezeichnen, wenn der Vorgang der Geschlechtsbestimmung zu keiner deutlichen Verminderung der Schlupfrate der weiblichen Eier führt.
Das sind klare Vorgaben. Wie kann man die Einhaltung dieser Kriterien gewährleisten?
Die wohl in 2017 einsatzbereiten Prototypen oder Verfahren müssen ihre Funktionalität unter Praxisbedingungen umgehend an großen Stückzahlen nachweisen. Denn wir müssen uns im Klaren darüber sein: Der Funktionsnachweis unter Laborbedingungen ist eine Sache. Der automatisierte Dauereinsatz unter den Umweltbedingungen in einer Brüterei ist aufgrund der viel größeren Schwankungsbreite, z. B. hinsichtlich Staubgehalt der Luft, oder der Luftfeuchtigkeit und einer größeren Variabilität bei den Eiern, z. B. bei Größe und Schalenstabilität, eine zusätzliche Herausforderung.
Nicht vergessen darf man aus meiner Sicht darüber hinaus, dass eine Lösung auch wirtschaftlich für die Brütereien tragbar sein muss. Da wird es in der finanziellen Leistungsfähigkeit Unterschiede zwischen großen und kleinen Brütereien geben. Letztere dürfen aufgrund der hohen Investition nicht zum Aufgeben gezwungen werden! Nach meiner Einschätzung wird es deshalb notwendig sein, staatlicherseits auch Fördermittel für die Einführung dieser großen und sinnvollen Innovation in die breite Brütereipraxis Deutschlands vorzusehen.
Was würden Sie sich für die weitere Entwicklung wünschen?
Wichtig ist, dass in der öffentlichen Diskussion nicht vorschnell von praxisreifen Lösungen gesprochen wird, da eine voreilige Etablierung einer zuvor nicht ausreichend validierten Technik fatale Folgen für hiesige Brütereien hätte.
Denn sobald eine Technik von offiziellen Stellen – neben den Kontrollbehörden z. B. auch Gerichte – als anerkannt praxisreif eingestuft wird, fällt der vernünftige Grund für das Töten der männlichen Eintagsküken der Legelinien nach Tierschutzrecht weg. Dies würde bedeuten, dass die Technik zur Geschlechtsbestimmung sofort von allen Brütereien in Deutschland anzuwenden wäre. Dann wäre auch zu fragen: Gibt es überhaupt lieferfähige Hersteller, wie z. B. Brütereieinrichter, die eine solche Technik für einen großflächigen Einsatz zu einem vorgegebenen Stichtag anbieten könnten und wäre sie unter ökonomisch realistischen Bedingungen bezahlbar? Juristisch ausgedrückt: Wären kurzfristig Stand der Technik und Verhältnismäßigkeit gegeben? Beide Fragen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur mit einem klaren Nein beantworten.
Die Politik muss deshalb klare Vorgaben für den Umstellungsprozess machen, damit alle deutschen Brütereien diesen Weg mitgehen können. Sie sind in Sachen Tierwohl-Fortschritt die innovativsten und werden gebraucht! Es wird unbedingt die Festlegung von ausreichend langen Übergangsfristen notwendig sein, wie sie auch bei vergleichbaren Umstellungsprozessen in anderen Branchen vorgesehen wurden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle gemeinsam unter den vorstehend von mir formulierten Bedingungen eine wirklich praxisreife Lösung finden werden. Sie wird Kosten verursachen und am Ende wird sich auch der verantwortungsbewusste Verbraucher beim Einkauf von Eiern und Eiprodukten solidarisch und engagiert zeigen müssen.
Mit Realismus und dem bewährten Grundsatz „Sorgfalt vor Eile“ können wir bei der Vermeidung des uns alle betroffen machenden Kükentötens weltweit Vorreiter sein und einen Meilenstein für die globale Nachahmung setzen!
Wir danken Ihnen für das Gespräch.